Geschichte lehrt, dass selbst Marktführer ins Straucheln geraten, wenn sie den entscheidenden Innovationsschritt verschlafen. Das Beispiel Nokia ist Mahnung und Menetekel zugleich.
Noch zu Beginn der 2000er Jahre galt Nokia als Synonym für Erfolg. Über mehr als ein Jahrzehnt hinweg bestimmten die Finnen das weltweite Mobilfunkgeschäft. Mit Marktanteilen von über 40 Prozent und Milliardenprofiten, schien Nokia unantastbar. Analysten lobten die Effizienz der Produktion, Konsumenten schworen auf die Robustheit der Geräte, Aktionäre genossen ihre Dividenden. Es waren Jahre der vermeintlichen Unerschütterlichkeit – und doch ein Kartenhaus, das in sich zusammenfiel, als der nächste große Technologiesprung kam. „Genau hier liegt die historische Parallele zur deutschen Automobilindustrie“, warnt Thorsten Gröger, Bezirksleiter der IG Metall Niedersachsen und Sachsen-Anhalt sowie Verhandlungsführer der IG Metall bei Volkswagen. „Bis Corona glänzten die Bilanzen der Automobilkonzerne noch, die großen Konzerne meldeten Milliardenüberschüsse. Doch gleichzeitig vollzieht sich ein fundamentaler Wandel: Elektromobilität, Digitalisierung, Software und Plattformökonomien stellen die Regeln der Industrie auf den Kopf. Wer jetzt zaudert, riskiert, dass Deutschland vom Gestalter zum Getriebenen wird.“
Die IG Metall in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, mit Volkswagen als zentralem OEM an sechs niedersächsischen Standorten, aber auch einer breiten Zuliefererlandschaft, mahnt eindringlich: Wer den Wandel in Richtung E-Mobilität, Klimaneutralität und Digitalisierung verschleppt, läuft Gefahr, in dieselbe Falle zu tappen wie Nokia. Noch schreiben die Konzerne Rekordgewinne, noch fließen Dividenden reichlich, noch herrscht eine Aura der Stärke. Doch genau dieses „Noch“ ist trügerisch. Märkte drehen sich schneller, als Vorstände und Politik es wahrhaben wollen. Wenn der globale Umschwung da ist, ist es zu spät für Nachholmanöver.
Deutschland braucht jetzt einen industriepolitischen Aufbruch – breit, entschlossen und getragen von klaren politischen Leitplanken. Im Zentrum steht die Elektromobilität, die längst nicht mehr nur ein Nischenthema ist, sondern zur weltweiten Leitentwicklung geworden ist. Doch der Markthochlauf ist in Europa und insbesondere in Deutschland zu langsam und zu brüchig. Während in China fast jedes zweite neu zugelassene Fahrzeug elektrisch fährt, ist der deutsche Markt nach dem abrupten Ende der Förderung unter der Ampel-Regierung eingebrochen. Damit verlieren nicht nur Hersteller, sondern auch Zulieferer und Beschäftigte Planungssicherheit. Die IG Metall fordert deshalb mit Nachdruck eine Offensive für die Elektromobilität, die über symbolische Ankündigungen hinausgeht und die gesamte Breite der Gesellschaft mitnimmt.
Das bedeutet erstens: Verlässliche Kaufanreize, die auch für mittlere und kleine Einkommen erreichbar sind. Steuerliche Vergünstigungen, gezielte Unterstützung beim Erwerb gebrauchter E-Fahrzeuge und ein sozial ausgestaltetes Leasingmodell sind unerlässlich, damit nicht nur Premiummodelle abgesetzt werden, sondern die breite Masse Zugang zur neuen Technologie erhält. Verbraucherinnen und Verbraucher brauchen Planungssicherheit – etwa durch eine Verlängerung der Kfz-Steuerbefreiung.
Zweitens: Transparente und deutlich günstigere Ladestrompreise - der öffentliche Raum darf nicht ein Vielfaches zum Daheim-Tarif kosten. Bei der Ladesäuleninfrastruktur und ihrem Ausbau ist bereits einiges passiert, aber noch immer sind Netze unzureichend und regional Ladepunkte ungleich verteilt. Es braucht verpflichtende Ladeangebote an Tankstellen, im Handel und an Arbeitsplätzen. Gleichzeitig müssen die Netze ertüchtigt werden, um den absehbaren Bedarf bewältigen zu können. Ohne diese Infrastruktur bleiben selbst die besten Modelle im Schaufenster stehen.
Drittens: Ein Aufbau einer eigenständigen europäischen Batteriewertschöpfungskette. Abhängigkeiten von asiatischen Herstellern gefährden nicht nur die technologische Souveränität, sondern auch hunderttausende Arbeitsplätze in Deutschland. Rohstoffpartnerschaften, europäische Recyclingkapazitäten und eine Hochskalierung der Zellproduktion sind Pflicht, wenn Europa nicht zum reinen Absatzmarkt degradiert werden will. Europa muss Produktionsstätte der Innovationen bleiben.
Viertens: Eine Stärkung des industriellen Mittelstands. Gerade die Zulieferbetriebe stehen vor der Herausforderung, ihre Geschäftsmodelle neu auszurichten. Sie brauchen gezielte Unterstützung in der Transformation, damit sie in neue Technologien investieren können, statt in Insolvenzen zu schlittern. Dabei müssen europäische Wertschöpfungsketten durch kluge Local Content-Strategien strategisch gestärkt werden.
Fünftens: Bezahlbare Energie. Wettbewerbsfähige Energiepreise sind die Grundbedingung für jeden Industriestandort. Ein befristeter Industriestrompreis, die Senkung der Stromsteuer auf das EU-Mindestmaß sowie der beschleunigte Ausbau erneuerbarer Energien und einer Wasserstoffwirtschaft sind nicht optional, sondern zwingend. Ohne sie bleibt die industrielle Transformation ein Papiertiger.
Gleichzeitig gilt zu beachten: Die ehrgeizigen CO₂-Vorgaben sind nur erfüllbar, wenn parallel die Infrastruktur wächst und der Markt tatsächlich mitzieht. Hier braucht es mehr Anstrengungen, Realismus und Synchronisierung: Sonst drohen am Ende Arbeitsplätze zu vernichten, ohne dem Klima zu helfen. Deshalb ist eine behutsame Flexibilisierung der Wege, bei gleichzeitig deutlicher Verbesserung der Rahmenbedingungen für E-Mobilität nötig. Auch sollten Plug-In-Hybride und Range-Extender als Brückentechnologien nicht vorschnell abgewertet werden, solange sie signifikant elektrisch gefahren oder mit klimaneutralen Kraftstoffen betrieben werden.
Die Hauptverantwortung für diesen Wandel tragen die Unternehmen und die Politik. Sie entscheiden über Investitionen, Produktionsstrukturen und Rahmenbedingungen – und damit über die Zukunft von Industrie, Regionen und hunderttausenden Arbeitsplätzen. Die Beschäftigten hingegen haben längst ihren Beitrag geleistet: Sie sichern mit ihrer Arbeit seit Jahrzehnten den Wohlstand dieses Landes, sie haben Flexibilität bewiesen, Innovationen hervorgebracht und Wandel mitgetragen. Es darf nicht sein, dass sie am Ende die Rechnung für zögerliche Entscheidungen in den Chefetagen oder für eine unklare Industriepolitik begleichen müssen. Jetzt ist vor allem die schwarz-rote Koalition im Bund gefordert, den Kurs für sichere Arbeitsplätze und industrielle Stärke klar zu bestimmen. Der niedersächsische Zukunftspakt Mobilität 2035 zeigt, wie verlässliche Wege für den Wandel der Automobilindustrie aussehen können.
Doch auch die Gesellschaft steht in der Verantwortung. Transformation ist kein rein technischer Prozess, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Sie verlangt Vertrauen, Aufbruchsstimmung und die Bereitschaft, neue Wege zu gehen – bei Konsumentinnen und Konsumenten ebenso wie in Wissenschaft, Bildung, Verwaltung und Politik. Nur wenn Unternehmen und Politik ihrer Führungsverantwortung gerecht werden und zugleich die Gesellschaft bereit ist, Mut statt Angst walten zu lassen, kann Deutschland den Wandel aktiv gestalten. Der drohende „Nokia-Moment“ ist sicherlich zugespitzt, schließlich ist die Automobilindustrie viel breiter diversifiziert als Nokia und in globale Wertschöpfungsketten eingebunden. Zugleich ist die Gefahr und der Trend real. Die deutsche Automobilindustrie bildet seit Jahrzehnten das Rückgrat unserer Volkswirtschaft. Millionen Arbeitsplätze hängen direkt oder indirekt an ihr – nicht nur in den Werken selbst, sondern entlang des gesamten Ökosystems: bei Zulieferern, im Maschinenbau, in der Forschung, im Handwerk, in der Logistik, im Handel. Jeder Arbeitsplatz in der Automobilindustrie sichert eine Vielzahl weiterer Existenzen in den Regionen, in den Kommunen, in den Familien. Gerät dieser Kern ins Wanken, geraten ganze Strukturen ins Rutschen: Ausbildungsplätze verschwinden, Steuereinnahmen brechen ein, kommunale Infrastruktur gerät unter Druck. Der Verlust von industrieller Stärke bedeutet nicht nur den Verlust von Arbeitsplätzen, er bedeutet auch den Verlust von Zukunftschancen für ganze Generationen.
„Wer die Automobilindustrie verspielt, verspielt mehr als einen Industriezweig – er riskiert die soziale Stabilität, den Wohlstand und die Zukunftsfähigkeit unseres gesamten Landes“, mahnt Gröger. „Deshalb darf die Transformation nicht als Bedrohung verstanden werden, sondern muss als Gestaltungsauftrag angenommen werden – für Unternehmen, die weitsichtig investieren, für die Politik, die Orientierung gibt, und für eine Gesellschaft, die erkennt, dass es hier nicht allein um Technik geht, sondern um Menschen, Regionen und die Zukunft Deutschlands.“
(Presseinformation der IG Metall Niedersachsen und Sachsen-Anhalt)